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Wieso digitale Anamnese? – Ein Blick auf die elektronische Patientenerfassung mit Fokus auf Therapie

Ein durchschnittliches Arztgespräch in Deutschland beträgt nur 8 Minuten (Irving et al., 2017). Das ist nicht viel Zeit, um das Anliegen der Patient*innen ausführlich zu besprechen. Für detaillierte Gespräche bleibt im Praxisalltag oft nicht genug Zeit, was insbesondere bei der Aufnahme, der sogenannten Anamnese, ein Problem darstellt. Aus diesem Grund wurde das Konzept der digitalen Anamnese eingeführt, das eine Möglichkeit für einen effizienten und zielführenden Austausch zwischen Ärzt*innen und Patient*innen bietet.

Was ist digitale Anamnese?

Die Anamnese, also die Erhebung der Krankengeschichte einer*s Patient*in, ist ein zentraler Bestandteil jeder medizinischen Behandlung. Traditionell erfolgt dies durch ein direktes Gespräch zwischen Arzt*in und Patient*in anhand eines Fragebogens, bei dem anhand eines Fragebogens Symptome, Vorerkrankungen und Lebensgewohnheiten besprochen werden (TK, 2022). Die digitale Anamnese verlagert diesen Prozess dagegen in die digitale Welt. Hierbei können Patient*innen ihre gesundheitlichen Informationen online in spezielle, meist von Praxen oder Kliniken bereitgestellte Systeme, eingeben. Diese Daten werden dann von Ärzt*innen analysiert und mit in die Diagnose- und Therapieentscheidung einbezogen (Deutsches Ärzteblatt, 2019).

Die Vorteile der digitalen Anamnese

Die digitale Anamnese ermöglicht es den Patient*innen, ihre persönlichen Daten in ihrem eigenen Tempo zu übermitteln und bei Bedarf Unterstützung zu erhalten. Dies ist vor allem für Personen von Vorteil, die aufgrund eines hohen Leidensdrucks mehr Zeit benötigen, einen vollen Terminkalender, Sprachbarrieren oder Mobilitätsprobleme haben. Es ermöglicht Flexibilität und verbessert die Datenqualität, da die Gefahr, wichtige Informationen oder Details aufgrund von Stress und Zeitmangel zu vergessen, geringer ist (Deutsches Ärzteblatt, 2019).

Zusätzlich wird der Verwaltungsaufwand für Praxen und Kliniken gesenkt. Digitale Systeme können größere Datenmengen verarbeiten und erfassen, was es größeren Praxen oder Organisationen erleichtert, die Informationen über ihre Patient*innen zu verwalten. Weniger Papier und mehr Automatisierung entlasten das Personal und die Ärzt*innen, sodass sie mehr Zeit für ihre Patient*innen haben und sich stärker auf Konsultationen, Beratung und Behandlung konzentrieren können (Deutsches Ärzteblatt, 2019). Bei Anamnesegesprächen im Bereich der mentalen Gesundheit müssen Psychotherapeutinnen innerhalb von 30 bis 90 Minuten die Probleme ihrer Patientinnen erfassen, eine Diagnose stellen und einen Behandlungsplan erstellen (O’Neill & Nakash, 2021). Die vorab ausgefüllte digitale Anamnese ermöglicht es den Therapeut*innen daher, die Informationen ihrer Patient*innen im Voraus zu prüfen und dadurch die Qualität sowie Effizienz des Erstgesprächs erheblich zu steigern.

Oftmals fühlen sich Patient*innen durch Aufnahmegespräche in Kliniken gehetzt und nicht ausreichend betreut. Vor allem wenn es darum geht, einen Therapieplatz zu erhalten, kann ein Anamnesegespräch abschreckend wirken. Patient*innen erwarten oft, dass sich das Erstgespräch bereits wie eine Therapie anfühlt, finden sich aber stattdessen durch einen standardisierten Fragebogen geführt. Da die Zeit für die Anamnese oft begrenzt ist, sind die Fragen zum Kennenlernen meist sehr einfach gehalten und bieten keinen Spielraum für detailliertere Informationen. Dies kann dazu führen, dass sich Patient*innen durch den Prozess gehetzt fühlen und möglicherweise einen negativen ersten Eindruck von dem*der Therapeut*in erhalten (Nakash et al., 2009). Wenn die Anamnese zudem nicht direkt mit dem*der Therapeut*in durchgeführt wird, kann das Gefühl des Unwohlseins noch verstärkt werden.

Herausforderungen

Patientendaten sind ein sensibles Thema. Die korrekte Handhabung, Sicherung und der Schutz der Privatsphäre sind entscheidend für das Vertrauen zwischen einer Klinik und ihren Patient*innen. Die Verarbeitung sensibler Gesundheitsdaten erfordert daher höchste Sicherheitsstandards, um Datenschutzrichtlinien zu entsprechen und das Vertrauen der Patient*innen zu sichern.

Oftmals besitzen Praxen und Kliniken bereits integrierte Systeme für die Praxisverwaltung. Die Kompatibilität von digitalen Anamnese-Systemen mit der bestehenden Praxis- oder Kliniksoftware kann eine Herausforderung darstellen. Zudem erfordert die Einführung neuer Technologien sowohl finanzielle Investitionen als auch die Bereitschaft, Fortbildungen und Schulungen für das Personal zu ermöglichen (KBV, 2022).

Ebenso können bei der Nutzung der digitalen Anamnese auf Seiten der Patient*innen Schwierigkeiten auftreten. Nicht alle sind technikaffin, insbesondere ältere Menschen oder solche ohne regelmäßigen Zugang zu digitalen Geräten könnten Probleme haben, die Systeme zu bedienen. Die digitale Anamnese ist daher nicht für alle gleichermaßen zugänglich.

Die digitale Anamnese bringt eine Vielzahl von Vorteilen mit sich, sowohl für Ärzt*innen als auch für Patient*innen. Sie kann Arbeitsabläufe optimieren, Präzision und Effizienz steigern sowie die Patientenversorgung verbessern. Obwohl es einige Herausforderungen in der digitalen Anamnese gibt, ist klar, dass wir uns weiter ins digitale Zeitalter bewegen, und es gilt, diesen Wandel aktiv, inklusiv und sorgfältig zu gestalten.

Quellen:

Deutsches Ärzteblatt. (2019, April 26). Elektronische Patientenaufklärung: Tablet statt Klemmbrett. Deutsches Ärzteblatt. https://www.aerzteblatt.de/archiv/206951/Elektronische-Patientenaufklaerung-Tablet-statt-Klemmbrett

Irving, G., Neves, A. L., Dambha-Miller, H., Oishi, A., Tagashira, H., Verho, A., & Holden, J. (2017). International variations in primary care physician consultation time: a systematic review of 67 countries. BMJ Open, 7(10), e017902. https://doi.org/10.1136/bmjopen-2017-017902

KBV. (2022). Digitale Innovationen im Praxistest. Kassenärztliche Bundesvereinigung. https://www.kbv.de/media/sp/KBV-Zukunftspraxis_Bericht_WEB.pdf

Nakash, O., Dargouth, S., Oddo, V., Gao, S., & Alegría, M. (2009). Patient initiation of information: Exploring its role during the mental health intake visit. Patient Education and Counseling, 75(2), 220–226. https://doi.org/10.1016/j.pec.2008.10.010

O’Neill, M. M., & Nakash, O. (2021). Uncovering the Intricacies of the Clinical Intake Assessment: How Clinicians Prioritize Information in Complex Contexts. Journal of the Society for Social Work and Research, 12(4), 803–829. https://doi.org/10.1086/715439

TK. (2022, September 6). Anamnese: Darum ist das Erstgespräch so wichtig. Die Techniker. https://www.tk.de/techniker/magazin/digitale-gesundheit/spezial/fuer-ihre-gesundheit-und-sicherheit/anamnese-2114052

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